
Victor Kugler bei der Plastik von Anne Frank in Utrecht, um 1975.
„Ich musste ihnen helfen, sie waren meine Freunde.“
Victor Kugler, Helfer der Untergetauchten
Dineke Stam - 2000
Victor Kugler (1900-1981) ist aus Anne Franks Tagebuch bekannt. In älteren Ausgaben des Tagebuchs erscheint er als „Harry Kraler“. Anne schreibt Dutzende Male über seine Rolle als Beschützer, seine Umsicht, seine Sorgen und seine Nervosität, über die Geschenke, die er mitbringt, über sein Organisationstalent und über die Aufrufe zum Arbeitsdienst, die er erhält. Dokumente aus dem Nachlass Victor Kuglers, die seine Schwester 1996 dem Anne Frank Haus schenkte, vermitteln einen Eindruck von seinem Leben.
Victor Kugler wurde am 5. oder 6. Juni 1900 in Hohenelbe geboren. Beide Daten sind auf amtlichen Dokumenten zu finden, und auch der Name wird unterschiedlich geschrieben. Aus Viktor mit k wird nach 1920 Victor Gustav mit c. Hohenelbe war um die Jahrhundertwende eine kleine Stadt in Österreich-Ungarn, im Kreis Königgrätz im Riesengebirge. Es lag im deutschsprachigen Sudetenland, in Böhmen. Unter den gut 7000 Einwohnern Hohenelbes waren (im Jahr 1910) 6253 Deutsche. Heute heißt der Ort im Nordwesten Tschechiens Vrchlabí.
Uneheliches Kind
Aus seiner Geburtsurkunde geht hervor, dass Victor ein uneheliches Kind war. Der Name seines Vaters ist nicht bekannt, seine Mutter Emilie Kugler war Schneiderin in Hohenelbe. Sie war die Tochter von Wilhelmina Erben und deren Ehemann Anton Kugler, der als „Unterbrauer“ in einer Bierbrauerei arbeitete. Victors Taufpate, ein Zeichner, hieß Gustav Kugler, und seine Taufpatin war die Brauerstochter Antonia Kugler. Victor wurde, wie die Mehrzahl der Einwohner des Ortes, römisch-katholisch getauft. Außerdem lebten in Hohenelbe eine Minderheit von ungefähr 300 Protestanten, und es gab eine kleine jüdische Gemeinde mit gut 100 Mitgliedern.
Ein guter Schüler
Eine ledige Mutter hatte es damals nicht leicht. Auch für die dreiundzwanzigjährige Emma Kugler wird das so gewesen sein. In einer Kleinstadt wie Hohenelbe war so etwas „Skandalöses“ zweifellos allgemein bekannt. Auch das Kind selbst kann bei seiner Umwelt auf negative Reaktionen gestoßen sein, weil es als „Bastard“ angesehen wurde. Die vielen Fotos des heranwachsenden Victor deuten darauf hin, dass seine Mutter und die Familie ihn deshalb nicht weniger geliebt haben. An den Fotos und dem aufwendig gestalteten Taufschein lässt sich erkennen, dass die Familie nicht arm war. Victor besuchte die Grundschule in Hohenelbe, eine „Volks- und Bürgerschule für Knaben.“ In seinen Zeugnissen von September 1906 bis Juli 1909 steht kein einziges „mangelhaft“. Victor ist ein guter Schüler. Er glänzt in Religion, Erdkunde und Geschichte, ist gut im Turnen und Rechnen, und im Schreiben und Zeichnen hat er die Note ausreichend. Mutter Emma Kugler unterschreibt alle „Schulnachrichten“. Von September bis Dezember 1909 besucht Victor die gemischte Schule (Jungen und Mädchen) in seinem Geburtsort.
Fachschule für Weberei
Am 30. Januar 1910 zieht er nach Duisburg-Beeck. Wahrscheinlich übersiedelt Victor allein, denn die Zeugnisse seiner nun folgenden Ausbildung auf dem Norbertinum in der Nähe von Duisburg werden nicht mehr von seiner Mutter, sondern von einem gewissen Franz Klose unterschrieben. In welcher Beziehung sie zueinander standen, ist nicht bekannt. Das Norbertinum war eine zehn- oder elfjährige allgemeinbildende Schule, eine „Rektoratschule“ in der Trägerschaft der katholischen Kirche. Es war kein Internat, erhob jedoch Schulgeld. In dieser Schule kam Victor anfangs ziemlich gut mit, bekam aber im Dezember 1912 Schwierigkeiten. „Wenn der Schüler nicht fleißiger wird, so kann er zu Ostern nicht versetzt werden“, steht im Zeugnis. Lange bleibt Victor nicht mehr im Norbertinum. Er wechselt in eine siebenjährige Schule und erwirbt dort zügig und mit guten Noten sein Abschlusszeugnis. Er kehrt nach Hohenelbe zurück und absolviert eine Ausbildung in der „K.K. Fachschule für Weberei“. 1916 schließt er mit sehr guten Noten ab.
Deutscher Nationalismus
Außer Fotos, Zeugnissen und Diplomen hat Victor Kugler auch einige andere Dokumente aus dieser Zeit aufbewahrt. Es handelt sich um verschiedene amtliche Papiere und um Gedichte. Eines dieser Gedichte schreibt Victor am 15. Juli 1916 auf die erste Seite seines „Stammbuchs“. Es heißt „Deutsch sein“ und atmet einen starken Nationalismus: Der Deutsche soll: „voran den andern empor die steilsten Wege wandern, dem Heile und der Vollendung zu.“
In der K. und K. Marine
Nachdem Victor in der ersten Jahreshälfte 1917 in der Statistikabteilung des Deutschen Kalisyndikats in Berlin gearbeitet hat, wird er Matrose im Kaiserlichen und Königlichen Matrosenkorps der österreichischen Marine. Aus der Rekrutenschule in Pola (heute Pula, Kroatien) schickte er am 16. Februar 1918 eine Karte mit dem vorgedruckten Text „Ich bin gesund und es geht mir gut“ an Franz Klose in Gladbeck. Victor wird verwundet und deshalb zwei Monate später aus dem Militärdienst entlassen. Im November 1918 ist der Erste Weltkrieg vorbei. Die europäische Staatenwelt ist gründlich durcheinandergerüttelt worden. Hohenelbe gehört nicht mehr zu Österreich-Ungarn, sondern zur Tschechoslowakei.
In die Niederlande
Victor Kugler geht zurück nach Deutschland. Zuerst arbeitet er eineinhalb Jahre als Elektriker in der Zeche Zweckel in Gladbeck, wo Franz Klose lebt. Die Wirtschaftslage in Deutschland ist nicht gerade rosig. Im September 1920 findet Victor einen anderen Arbeitgeber, die Deutsche Maschinenfabrik, für die er in Utrecht Montagearbeiten verrichtet. Als er dort Laura Maria Buntenbach (eine Niederländerin) begegnet und auch Arbeit findet, bleibt er. 1923 besteht er seine Prüfung als niederländischer Handelskorrespondent und arbeitet für eine Firma, die das Geliermittel Pektin an Marmeladenfabriken verkauft.
Victor Kugler wird Niederländer
Über den Pektinhandel lernen sich Victor Kugler und Otto Frank kennen. Kugler wird 1933 einer der ersten Mitarbeiter in Otto Franks neu gegründetem Amsterdamer Opekta-Handel. Seine Kollegin Miep Gies charakterisiert ihn wie folgt: “Ein stattlicher, gutaussehender Mann, dunkelhaarig und sehr gewissenhaft. Er war immer ernst, machte nie Scherze. Kugler ging seine eigenen Wege, immer sehr förmlich und höflich.“ Anfang der dreißiger Jahre erfährt Victor von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland, wie es dort zugeht. Mit seinen nationalistischen Gefühlen ist es offenbar vorbei, denn er nimmt im Mai 1938 die niederländische Staatsbürgerschaft an. Als Otto Frank seinen Betrieb um eine Firma für Gewürzmischungen erweitert, ist Victor Kugler maßgeblich daran beteiligt. Victor fährt täglich mit dem Motorrad von seinem Wohnort Hilversum nach Amsterdam, eine Strecke von 25 Kilometern.
Antijüdische Gesetze
Am 10. Mai besetzt die deutsche Wehrmacht die Niederlande. Juden in den Niederlanden dürfen keinen eigenen Betrieb führen. Um zu verhindern, dass die Nazis seine Firma übernehmen, überträgt Otto Frank die Firmenleitung seinen nichtjüdischen Mitarbeitern. Victor Kugler wird Direktor des Gewürzhandels Gies & Co. Antijüdische Gesetze werden in schneller Folge erlassen. Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden werden verboten. Trotzdem besuchen Victor und seine Frau die Familie Frank weiterhin.
Eine große Stütze
Seit Juli 1942 verstecken sich die Familien Frank, van Pels und der Zahnarzt Fritz Pfeffer in dem Gebäude an der Prinsengracht. Victor Kugler ist ihnen eine große Stütze. Otto Frank beschreibt im Jahr 1977, wie Kugler den Untergetauchten half: „Während unserer Zeit im Versteck kam Herr Kugler fast jeden Tag zu uns. Er brachte uns Zeitungen, Zeitschriften und andere notwendige Dinge und versuchte, uns so weit es ging seelische Unterstützung zu leisten, indem er die Lage draußen so optimistisch wie möglich schilderte und schlechte Nachrichten nicht an uns weitergab. Ab und zu gelang es ihm, Lebensmittelmarken auf dem Schwarzmarkt zu kaufen. Vor allem jedoch hat Herr Kugler oft Gewürzpartien verkauft, ohne die Verkäufe in den Büchern festzuhalten, und dadurch Geld für uns beschafft. Das war natürlich wichtig, weil unsere finanziellen Mittel im Lauf der zwei Jahre langsam erschöpft waren. Die Verantwortung, die Herr Kugler auf sich genommen hat, war sehr schwer, und er lebte in ständiger Anspannung, vor allem auch, weil seine Frau nichts von uns wusste und er deshalb mit ihr nicht über seine Sorgen reden konnte.“ Kuglers Frau, deren Gesundheit sehr angegriffen war, starb im Dezember 1952.
„Von unseren jüdischen Freunden getrennt“
Am 4. August 1944 werden die Untergetauchten verraten und zusammen mit zwei Helfern verhaftet. Nach dem Krieg beschreibt Victor Kugler, wie das geschah: „Um 11 Uhr vormittags erschien plötzlich die Gestapo und verhaftete die untergetauchten jüdischen Personen, meinen Freund J. Kleiman, den Direktor der im selben Haus untergebrachten N.V. Nederlandsche Opekta Mij. und mich. Wir wurden ins Gestapo-Hauptquartier in der Euterpestraat gebracht, wo wir, Herr Kleiman und ich, von unseren jüdischen Freunden getrennt wurden. Wir beide wurden noch am selben Tag in das Gefängnis am Amstelveenseweg verbracht. Am 7. September wurden wir in das Gefängnis an der Weteringschans überführt, wo man mich in die Zelle der zum Tode Verurteilten brachte. Vier Tage später, am 11. September, folgte der Transport in das Konzentrationslager Amersfoort, wo ich (Nr. 7006) für den Transport nach Deutschland bestimmt war. Dieser Transport konnte zum Glück nicht erfolgen, weil am 17. September (Luftlandung Arnheim) der Bahnhof Amersfoort bei einer Bombardierung zerstört wurde. Am 26. September wurden wir (ca. 1100 Leute) nach Zwolle transportiert, wo wir unter Bewachung der Deutschen Panzergräben ausheben mussten.“
Angriff und Beschuss
„Kurz vor Neujahr (30. Dezember 1944) wurden die Gefangenen, unter denen auch ich mich befand, nach Wageningen verlegt, wo wir ebenfalls unter Bewachung der Deutschen (SA-Männer) Erdarbeiten verrichten mussten, was bis zum 28. März 1945 dauerte. An diesem Tag marschierten ungefähr 600 Gefangene aus Wageningen über Renkum, Heelsum, Oosterbeek, Arnheim und Westervoort nach Zevenaar, von wo aus es am nächsten Tag nach Deutschland weitergehen sollte. Am Ortseingang von Zevenaar wurde unsere Kolonne von englischen Spitfires angegriffen und unter Beschuss genommen. Leider gab es mehrere Tote. Ich nutzte das Durcheinander und floh. Bei einem Bauern, Herrn Barends, tauchte ich ein paar Tage unter und fuhr dann mit dem Fahrrad bis an die Ijssel.“
Ein Versteck
„In Lathum musste ich ein paar Tage in einer der Ziegeleien warten, ehe man mich übersetzen konnte, was dann schließlich glückte. Nachdem ich in Barneveld bei einer Razzia der Gestapo fast wieder den Deutschen in die Hände gefallen wäre, kam ich schließlich am Karfreitag zu Hause in Hilversum an, wo ich es für nötig hielt, mir für die restlichen Wochen bis zur letztendlichen Befreiung ein Versteck zu bauen. Ich war also volle acht Monate von zu Hause fort.“ In einem späteren Interview erzählt Victor Kugler, dass er immer ein religiöser Mensch gewesen sei und dass ihm sein Glaube in jener Zeit großen Halt gegeben habe.
Nach Kanada
Nach dem Krieg kehrt Victor Kugler in die Gewürzhandelsfirma Gies & Co zurück, die jedoch nicht mehr so gut läuft, vor allem, nachdem das Gewürzland Indonesien 1949 von den Niederlanden unabhängig wird. Im Betrieb begegnet Kugler seiner zweiten Frau Lucie (Loes) van Langen. Am 7. Juni 1955 heiraten sie. Im selben Jahr zieht sich Kugler aus dem Betrieb zurück und emigriert mit Loes nach Kanada, wo bereits ihre Schwester, ihr Bruder und ihre Mutter leben. Es ist nicht einfach, in Kanada eine neue Existenz aufzubauen. Victor Kugler arbeitet zuerst als selbstständiger Gewürzhändler, später auch als Elektriker und Versicherungsagent. Die ganze Zeit halten Otto Frank und Victor Kugler ihre Korrespondenz aufrecht, die nie ihren recht förmlichen Ton verliert. Aus der förmlichen Anrede „Sehr geehrter Herr Frank“ in den fünfziger und sechziger Jahren wird zwar in den siebziger Jahren „Lieber Herr Frank“, jedoch nie „Lieber Otto“.
Keine Wahl
Victor Kugler nimmt an verschiedenen Aktivitäten um Anne Frank in Kanada teil. Er erzählt in Schulen von ihr und wird sogar von (Neo-)Nazis bedrängt, die ihn am Telefon bedrohen. Im April 1971 wendet sich Otto Frank an die Gedenkstätte Yad Vashem und beantragt für die Helfer den Ehrentitel "Gerechte/r unter den Völkern". 1972 erhalten die vier Helfer diese israelische Auszeichnung. Als sich Victor 1977 einer Augenoperation unterziehen muss, bietet Otto Frank ihm Hilfe an. Im selben Jahr wird Victor mit einem Preis der kanadischen Anti-Defamation League geehrt, der mit der Preissumme von 10.000 Dollar dotiert ist. „Deshalb habe ich es wirklich nicht getan“, sagte Victor Kugler, entgeistert über die hohe Summe, die mit dem Preis verbunden war. 1955 formuliert er, warum er den Untergetauchten geholfen hat: „Im Haus waren wir eine einzige große Familie und wir wussten, dass es einem Todesurteil gleichgekommen wäre, wenn wir nicht mitgeholfen hätten. Also hatten wir praktisch keine Wahl.“ Und im Jahr 1977: „Ich musste ihnen helfen: Sie waren meine Freunde.“ In seinen letzten Lebensjahren leidet Victor Kugler an der Alzheimer-Krankheit. Er stirbt am 14. Dezember 1981.